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Praxisbeispiel-Sammlung: Welche Vertrauensfallen haben international tätige Manager selbst erlebt?

Im Rahmen unserer Forschung zur Vertrauensentwicklung im internationalen Management haben wir eine Vielzahl an Erfahrungsberichten von Führungskräften analysiert. Unsere Praxisbeispiel-Sammlung erweitern wir kontinuierlich durch weitere Forschung sowie durch Zuschriften unserer Leser.

Beispiel: Er hatte sein Bestes gegeben, aber der Chef war trotzdem unzufrieden

tl_files/VF-0-flaggen/Mexiko.png  tl_files/VF-0-flaggen/Deutschland.png    Mexiko-Deutschland

Lothar ist unzufrieden mit seinem Mitarbeiter Gerardo, weil dieser versäumt hat, einen Bericht fertig zu stellen, der nach Deutschland an das Stammhaus geschickt werden muss. Er berichtet:

„Ich bat Gerardo zu mir und sprach ihn auf sein Verschulden an. Gerardo versuchte, eine Ausrede zu finden, er hätte noch etwas anderes zu tun gehabt. Ich erwiderte, er hätte mich informieren müssen, dass der Bericht wegen einer anderen Angelegenheit nicht fertig gestellt werden konnte. Ich bat Gerardo, den Bericht erneut zu bearbeiten. Jetzt bekam ich das Ergebnis sehr schnell, war aber unzufrieden damit: Es hatte nicht die Qualität, die ich erwartete. Erneut bat ich Gerardo zu mir und besprach mit ihm, inwiefern der Bericht unsorgfältig und schlecht gemacht sei. Daraufhin sagte Gerardo, er habe das Beste gemacht, und er wolle immer nur das Beste machen, er habe doch so viel anderes gut gemacht. In den folgenden Wochen bemerkte ich, dass Gerardo unmotiviert war und unsere Vertrauensbeziehung belastet war."

Quelle: Kulturstandardforschung / A. Thomas

Was ist passiert?

Das Erlebnis Lothars ist ein Beispiel für die 'Konstruktive-Kritik!'-Vertrauensfalle. In dem Fallbeispiel, das aus der Perspektive des deutschen Managers Lothar berichtet wird, stellen sowohl der deutsche Chef als auch der mexikanische Mitarbeiter die Vertrauensbeziehung in Frage. Die 'Konstruktive-Kritik!'-Vertrauensfalle entsteht jedoch aus der Perspektive des mexikanischen Mitarbeiters: Der Mexikaner Gerardo bekommt von seinem Chef den Auftrag, einen Bericht fertig zu stellen. Offenbar hat er jedoch andere wichtige Aufgaben zu erledigen, weswegen er den Bericht nicht innerhalb der gesetzten Frist fertig stellen kann. Er bemüht sich aber sehr, die Arbeit trotzdem so weit wie möglich voran zu bringen. Doch anstatt dass der Chef das honoriert, kritisiert der nur, dass der Bericht noch nicht fertig sei – und zwar auf sehr offene und direkte Weise. Nachdem sich Gerardo dann daran macht, den Bericht so schnell wie möglich fertig zu stellen und dabei, da es dem Chef drängt, den Fokus auf Geschwindigkeit, nicht Qualität legt, kritisiert dieser ihn wieder offen und umfassend. Beide Situationen sind für Gerardo ein Grund, das Vertrauen in den Chef infrage zu stellen – und zwar in Bezug auf den Vertrauensfaktor Kritik/Widerspruch höflich-indirekt äußern.

Hinzu kommt, dass der Chef seinen Einsatz überhaupt nicht würdigt. Immerhin hat er sich nach der ersten Kritik bemüht, den Bericht nun so schnell wie irgend möglich fertig zu machen. Das honoriert der Chef schlicht gar nicht – ein kritisches Verhalten in Bezug auf den Faktor Respekt und Interesse zeigen (im Sinne von: Leistungen wertschätzen).

Was Lothar und Gerardo hier in die Vertrauensfalle führt, ist eine unterschiedliche Erwartung und Gewohnheit bezüglich der Direktheit des Kommunikationsstils. Hinzu kommt ein unterschiedliches Verständnis der Rolle von Face und Facework. Bei der Formulierung von Kritik besteht grundsätzlich die Gefahr, das Gesicht ('Face') des Gesprächspartners zu verletzen. Es entsteht eine Gesichtsbedrohung, wenn man Kritik zu direkt und ohne Abschwächung formuliert. Eine Möglichkeit, um Gesichtsbedrohungen bei der Formulierung von Kritik zu vermeiden bzw. abzuschwächen, ist die 'indirekte Kommunikation'. Anstatt zu sagen „Dein Bericht ist nicht sorgfältig erstellt, nämlich…“, kann man auch sagen „Um den Bericht noch weiter zu verbessern, könnte man noch…“. Angehörigen direkter Kulturen erscheinen solche Formulierungen häufig heuchlerisch oder gar lächerlich. In indirekten Kulturen sind sie jedoch völlig normal und sogar nötig, um das Gesicht – das Ansehen der Person in der Situation – zu bewahren. Die Botschaft, dass man die Arbeitsleistung kritisiert, kommt bei einem Gesprächspartner dennoch an. Angehörige indirekter Kulturen können viel besser zwischen den Zeilen lesen, als sich das Vertreter direkter Kommunikation vorstellen können.

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, eine potenzielle Gesichtsbedrohung, wie sie Kritik nun einmal bedeutet, abzuschwächen: indem man gleichzeitig auch positive Aspekte des  Gesprächspartners hervorhebt. In unserem Fallbeispiel hätte Lothar positiv hervorheben können, dass Gerardo sich nach dem ersten Gespräch um eine schnelle Fertigstellung des Berichts bemüht hat. Er hätte dann anschließen können, dass der Bericht allerdings aus bestimmten Gründen eine gewisse Qualitätsanforderung erfüllen muss. So wäre die Kritik bei Gerardo sicher angekommen, Lothar hätte aber die direkte Gesichtsverletzung vermieden.

Sowohl die Verwendung indirekter Kommunikation als auch die Kombination von Kritik mit Lob können Gesichtsbedrohungen abschwächen. Beides sind kommunikative Verhaltensweisen, die der Mexikaner Gerardo erwarten würde. Dass Lothar nicht so handelt, ist aus Gerardos Sicht ein Grund, sein Vertrauen in Lothar infrage zu stellen. Doch so gerät Gerardo in die kulturelle Vertrauensfalle. Denn für den deutschen Manager Lothar hat Kritik in dieser Situation einen 'konstruktiven Charakter – sie versucht etwas zu bewirken, sie versucht, Lernen zu ermöglichen, sie ist ein Führungsinstrument. Ein deutscher Manager kritisiert Mitarbeiter nicht aus Spaß, sondern aus der Führungsverpflichtung heraus, Einsichten zu vermitteln und Prozesse zu verbessern.

Eine ausführlichere Analyse des Beispiels finden Sie in unserer Publikation 'Vertrauensfallen im internationalen Management', Abschnitt 13.2.

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